Text: „Schreibtischtraum“ Sylvia Hagenbach Bild: Kerstin

Von | 17. November 2007

Schreibtischtraum

 

*Schreibtischtraum
*Sie sagen, es sei Meditation, eine tiefe Versenkung. Dem
Gedankengeplapper würde der Hals zugedreht. Schluss mit dem
immerwährenden Geknaster und Geknautsch, Schluss mit dem Gebrasel und
Gebrumm. Schluss. Endlich Schluss. Leer. Still. Nur noch das Kratzen des
Stiftes, der Feder, der Kohle, der Kreide auf dem Papier. Die Augen
sausen hin und her zwischen dem Modell und dem Blatt. Stifte stehen
aufgerichtet im blauen Glas mit dem Goldrand. Filzer, Buntstifte,
Kugelschreiber, zwei neue Kohlestifte. Bleistifte. Es ist spät. Der
Stift jagt über das Papier und erschafft eine Form aus hell und dunkel,
Licht und Schatten. Schließlich wird er hingelegt. Die Augen sind müde.
Die Hand ist müde. Der Traum beginnt. Der Traum von den Figuren, Formen,
Geschichten, die in all den Stiften schlummern. Lange rote, blaue,
gelbe, schwarze Stifte, orangene, gelbe, ach es ist kein Ende zu finden.
Bleiben die Stifte stehen im Glas, können die Geschichten und Bilder
nicht heraus, sie bleiben eingesperrt und unerzählt. Wie viele Stifte in
dem Glas stehen und warten…

Der rote will vielleicht ein Bild erzählen von einem Blutbad oder einem
zerbrochenen Herzen oder einem Granatapfel auf einem festlich gedeckten
Tisch. Der blaue von Prinzessinnenaugen, die in den Himmel schauen. Weil
da vielleicht der Wolkenprinz sitzt und sich nach der blauäugigen
Prinzessin sehnt. Und der grüne über irische Wiesen oder
grünspanbedeckte Bronzekönige, die auf ihrem Pferden den Bahnhof
bewachen. Oder vom Jäger aus Kurpfalz, der durch den grünen Wald…

Man muss die Stifte befreien — deshalb. Und schon träumen die Träume
weiter…

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