Kerstin Bober

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Physalis

Skizzenbuch — Kerstin Bober am 27. Februar 2012  

Der Tanz gehört mir

Projekt Text Bild — Kerstin Bober am 24. Februar 2012  

Nach Feierabend füttere ich meine zwei Katzen. Ich esse ein Brot mit Käse, dazu zwei Tomaten, trinke ein Glas Sekt. Dann ziehe ich die Vorhänge zu. Meine schwarze Bluse ziehe ich aus, meine Jeans, Schuhe und Strümpfe, ziehe meinen weißen Rock an, mit dem ich schon seit zehn Jahren tanze. Ich löse meine Haarspange, ich liebe es, wenn später die Haare über meine Haut gleiten. Jetzt lege ich Musik auf. Keine Musik aus Ballettzeiten, mit Spitze und Zwang. Meine Musik ist die Sonne und das Meer, die Hitze und der Schweiß, die Lust und das Leben. Ich schließe die Augen, atme einmal tief ein und spüre den Rythmus. Meine Fußsohlen spüren das Holz, rauh, das Echo der Musik auf den Holzbohlen, Kälte und Wärme. Meine Hände spüren mich, meine Haare streicheln meine Brust. Ich versinke in den Trommeln und den Bläsern. Wenig später fallen meine ersten Schweißtropfen – Stirn, Achseln, Brust, Bauch. Meine Hände wirbeln durch den Raum, erwärmen die Luft, werden nass von meinem Körper – meine geschlossenen Augen dampfen vor Hitze. Ich denke an nichts. Nach vierzig Minuten ist Schluß.

Text: Jürgen Gisselbrecht

Ein guter Morgen

Projekt Text Bild — Kerstin Bober am 20. Februar 2012  

Über die Fensterbank gebeugt durchforstet Marianne die Straße. Ihr spärliches Haar weht als Wetterfähnchen von ihrer Kopfhaut. Es ist Sommer, kurz vor der Tagesschau. Eigentlich sollten genügend Menschen auf der Straße sein, straßauf, straßab; stolzierend, in sich versunken, dem Himmel oder der Straße zugewandt.

Marianne wartetet auf die Menschen, die jeden Tag an ihrem Fenster vorbei laufen, Bekannte, Fremde – denen sie zuwinken, zulächeln oder doch wenigstens von ihrem Fensterbrett aus grüßen kann. Die Straße ist leer, menschenleer. Die Straße führt geradlinig über einen kleinen Hügel in das entfernte, nächstgelegene Dorf. Marianne lebt in einer Kleinstadt, nicht mehr als fünftausend Menschen, aber das sollte eigentlich genügen. Sie streicht ihr Haar glatt. Sie hält einen Augenblick den Kopf still und lauscht. Kein Mensch ist zu hören, auch in der Ferne nicht, nicht einmal ein Fahrrad.

Marianne schüttelt missbilligend den Kopf, lehnt sich weit aus dem Fenster und sieht weiterhin nichts als die leere Straße, den Teerbelag ohne Menschen. Ihr schwerer Oberkörper beugt sich in die andere Richtung der Straße, die zur Dorfkirche führt. Erst jetzt vermisst sie das Zwitschern der Vögel, selbst das Rascheln der Blätter ist verstummt. Marianne streicht mit ihren kleinen, dicken Händen über ihr spärliches Haar, drückt es glatt aneinander. Dann staunt sie. So etwas hat sie noch nie gesehen, so etwas noch nie gehört, und wenn sie es sich recht überlegt, so etwas noch nie gerochen: nicht nur keine Menschenseele auf der Straße, nicht einmal das Bellen eines räudigen Hundes, keine Fliege schwirrt, selbst riechen tut sie nichts. Der Sommer roch immer nach etwas, nach saurer Körperhitze oder frischem Gras, heute aber riecht der Sommer nach nichts.

Marianne schließt irritiert das Fenster und setzt sich in ihren Lieblingsstuhl am Fenster. Dann stimmt sie ein Lied an. Nach der letzten Strophe steht sie wieder auf, stellt sich vor ihren großen Spiegel im Flur. Dort streckt sie ihre Zunge heraus und zieht eine Grimasse. Dann steckt sie ihre Nase unter ihre Achsel, die säuerlich riecht.

Marianne geht auf die Straße. Totenstille. Sie späht über die Straße, sieht, hört und riecht niemanden und nichts. Sie sieht zu den Häusern am Ende der Straße, den Nachbarn – nichts. Selbst die Luft riecht und schmeckt nach nichts, nicht einmal nach Luft. So steht Marianne eine geschlagene Stunde auf der Straße. Dann geht sie wieder zurück in ihre Wohnung. Müde ist Marianne geworden, legt sich ins Bett und schläft schnell ein.

Am nächsten Morgen schlüpft sie in ihren blauen Morgenmantel, zögert noch, öffnet dann doch mit einem Ruck das Fenster, beugt ihren schweren Körper über die Fenster Bank, stutzt – lacht, bis sie schließlich Tränen lacht.

Text Jürgen Gisselbrecht